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Was wir alle aus der Crunch-Time bei CD Projekt RED lernen sollten

Ständig wird es angeprangert und trotzdem verkaufen sich die Endergebnisse wie heiße Semmeln: Crunch-Time, also das exzessive Anhäufen von Überstunden besonders vor Deadlines, ist in der Entwicklung von Videospielen leider immer noch weit verbreitet. Ein Wendepunkt könnte der katastrophale Release von Cyberpunk 2077 sein. Denn Crunch-Time sollte nicht nur die Videospielindustrie etwas angehen, sondern auch Gamer_innen.

Viele haben sehnsüchtig auf Cyberpunk 2077 vom polnischen Entwicklungsstudio CD Projekt RED gewartet. Während sich viele vor dem Release über das ständige Verschieben des hochkomplexen Action-RPGs beschwerten, stieß eine andere Thematik negativ auf.  Ende September 2020 stellte sich nämlich heraus, dass einige Mitarbeiter_innen sich seit Beginn des Jahres in der Crunch-Time befanden. Unter Crunch-Time versteht man das exzessive Sammeln von Überstunden, um ein laufendes Projekt für den geplanten Termin fertig zu stellen. Dabei sind Sechs- oder Sieben-Tage-Wochen keine Seltenheit, und das teilweise über mehrere Monate. Aber wie kam es überhaupt dazu, dass die Entwickler_innen zu dieser umstrittenen Methode greifen mussten?

Eine Geschichte von ungezügeltem Hype, mehreren Release-Verschiebungen und übermäßiger Crunch-Time

Seit der Ankündigung von Cyberpunk 2077 im Jahr 2012 sind acht Jahre vergangen. Während im Hintergrund die Entwickler_innen fleißig am Spiel arbeiteten, wurde das Game immer sehnsüchtiger von der Community erwartet. Nachdem neben der PC-Umsetzung auch die Playstation-4- und Xbox-One-Version bestätigt wurde, ist es ein ganzes Weilchen still um das Projekt des polnischen Entwicklungsstudios geworden. 2018 durfte die Welt endlich einen Blick auf die Gameplay-Demo werfen. Nach Aussagen des Studios war Cyberpunk 2077 zu diesem Zeitpunkt schon komplett spielbar. 2019 wurde endlich das Release-Datum bekannt gegeben: Am 16. April 2020 sollte V über unsere Bildschirme huschen, das konnte CD Projekt RED aber nicht einhalten: Der Release wurde Anfang 2020 um fünf Monate verschoben.

Im Charakter-Editor sah die Welt für alle Konsolen- und PC-Spieler_innen von Cyberpunk 2077 noch normal aus. Erst im weiteren Spielverlauf gab es massive Probleme auf den Konsolen.
Screenshot von: Game Activists – Spiel: Cyberpunk 2077

Dann überraschte die Nachricht, dass CD Projekt RED es doch nicht ohne Crunch-Time schaffte, obwohl sie laut eigener Aussage darauf verzichten wollten. Überstunden konnten nun nicht mehr freiwillig geleistet werden, sie wurden verpflichtend. Der Studioleiter Adam Badowski sprach von der härtesten Entscheidung, die er jemals getroffen habe und versprach, dass alle Mitarbeiter_innen entschädigt werden würden (was in der Spielentwicklungsindustrie nicht selbstverständlich ist). Knapp ein Monat später äußerte sich der Präsident von CD Projekt Adam Kiciński zu der Crunch-Time im eigenen Haus:

„Was den Crunch betrifft, so ist es eigentlich nicht so schlimm – und war es auch nie. Natürlich ist es eine Story, die von den Medien aufgegriffen wurde. Und einige Leute haben heftig gecruncht. Aber ein großer Teil des Teams cruncht überhaupt nicht mehr, seit sie ihre Arbeit beendet haben. Es geht hauptsächlich um Q&A-Mitarbeiter_innen, Ingenieur_innen und Programmierer_innen – aber es ist nicht so heftig. Natürlich wird es ein bisschen verlängert, aber wir haben Rückmeldungen aus dem Team. Sie freuen sich über die zusätzlichen drei Wochen, so dass wir keine Gefahr bezüglich des Crunching sehen.“

Später entschuldigte sich Kiciński bei seinen Kolleg_innen für diese Aussagen.

Der Fall des Prestige-Projekts

Nach zwei weiteren Verschiebungen erschien Cyberpunk 2077 schlussendlich am 10. Dezember. Während die Presse zunächst nur die PC-Fassung des Spiels zum Testen erhielt und von Kritiker_innen gefeiert wurde, konnten die Konsolenfassungen erst ein Tag vor dem Release von den Redakteur_innen angespielt werden. Ein großangelegter Test war auf der PS4 und der Xbox One somit nicht möglich. Am Tag darauf konnten endlich alle Spieler_innen Night City unsicher machen. Jedoch fiel auf, dass die Erfahrungen von PC- und Konsolen-Gamer_innen unterschiedlich sind: Während die PC-Spieler_innen in den Genuss eines sehr guten Action-Rollenspiels mit verzeihbaren Bugs kamen, hatten die Konsolen-Spieler_innen mit etlichen Problemen zu kämpfen. Die Details waren deutlich reduziert, die Framerate schaffte es noch nicht einmal auf 30 fps, nachladende Texturen, Spielabstürze …  Kurz: Cyberpunk 2077 für die PS4 und die Xbox One befand sich in einem technisch katastrophalen Zustand.

Dieser Umstand zog Konsequenzen nach sich, da viele Spieler_innen das Action-Rollenspiel zurückgeben wollten. Microsoft warnte auf der Produktseite vor Performance-Problemen, während Sony das Spiel sogar aus dem PS Store entfernte. Erst seit Juni 2021 können Spieler_innen wieder die digitale Version des Games auf der Playstation kaufen.

Vielleicht schmunzelte auch die ein oder andere Person, dass ausgerechnet die Konsolen-Versionen von Cyberpunk 2077 in so einem schlechten Zustand waren. Denn diese Versionen waren laut CD Projekt RED auch der Grund für die ständigen Release-Verschiebungen. Dennoch stellt sich vielen die Frage, warum Cyberpunk 2077 nicht an einem deutlich späteren Termin veröffentlicht wurde, wenn schon absehbar war, dass die Konsolen-Umsetzung erhebliche Probleme mit sich bringt. Stattdessen wurden Mitarbeiter_innen Überstunden und Sechs-Tage-Wochen aufgezwungen. Vermutlich wollte das Studio noch das boomende Weihnachtsgeschäft ausnutzen.

Huch, was ist denn da los? Unser Gegner will einfach nicht richtig erscheinen (PS4-Version).
Screenshot von: Game Activists – Spiel: Cyberpunk 2077

Schlussendlich sind auch die Spielenden selbst unter den Mitleidenden, da viele von der PS4- und Xbox-One-Version extrem enttäuscht sind. Neben einem massiven Imageschaden muss sich CD Projekt RED nun auch noch mit Sammelklagen der Investor_innen herumschlagen, da diese sich vom Entwicklungsstudio mit dem Zustand des Spiels hinters Licht geführt fühlen.

Crunch-Time in der Videospielindustrie 

Natürlich sind nicht nur Mitarbeiter_innen von CD Projekt RED von der Crunch-Time betroffen. So leiden bzw. litten auch Entwickler_innen von Rockstar Games, Naughty Dog und Epic unter einer exzessiven Überstunden-Ansammlung. Diese menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen sind also keine Ausnahme in der Videospielentwicklung.

Fakt ist, dass Crunch zu physischen und psychischen Problemen führen kann. Außerdem hat es insbesondere für Elternteile oder pflegende Angehörige negative Folgen. Denn je mehr Zeit Mitarbeiter_innen auf der Arbeit verbringen, umso weniger Zeit können diese für die Care-Arbeit, also Haushalt, Familie und Pflege der Angehörigen aufbringen. Es ist auch kaum verwunderlich, dass die Fluktuation an Mitarbeiter_innen in der Videospielindustrie relativ hoch ist.

Sollten Gamer_innen mehr Verantwortung tragen?

Hinter einem so großen Projekt wie Cyberpunk 2077 stecken Unmengen an Geld, die erst ab dem Release wieder eingespielt werden können. Dadurch entsteht auch ein gewisser Druck, das Spiel so zeitnah wie möglich zu veröffentlichen. Auch haben die ständigen Verschiebungen zu Unmut bei einigen Spieler_innen geführt, die CD Projekt RED nicht mehr enttäuschen wollte. Aber rechtfertigt das die Einführung von verpflichtenden Crunch? Liegt das Problem nicht darin, dass Videospielentwicklung über Jahre schwer planbar ist? 

Night City am Tag (PC). Screenshot von: Game Activists – Spiel: Cyberpunk 2077

Wahrscheinlich sind die Entwicklungsstudios mit ihrer wagen Planung nur eine Seite der Medaille. Vielmehr müssen Gamer_innen selbst auch ihren Konsum hinterfragen und Spiele möglicherweise boykottieren, die unter unwürdigen Bedingungen entstanden sind. Es reicht eben nicht aus, die ganzen Vorwürfe damit abzustreiten, dass jede Person gelegentlich ein paar Überstunden angehäuft hat. Dabei haben wohl die wenigsten Menschen in der westlichen Welt mehrere Monate lang sechs bis sieben Tage die Woche zehn bis zwölf Stunden täglich gearbeitet. Ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen scheint in Teilen der Gaming-Community leider immer noch zu fehlen. Dennoch könnte es auch zu einfach sein, Spiele komplett zu boykottieren, da dies die Arbeitsplätze der Entwickler_innen gefährden kann.

Es geht auch ohne Crunch!

Dass es auch ohne Crunch geht, zeigte Nintendo mit Animal Crossing: New Horizons. Statt das Spiel noch 2019 zu veröffentlichen, was zu einer extremen Anhäufung von Überstunden geführt hätte, entschied sich Nintendo für das Wohl ihrer Mitarbeiter_innen. Der Geschäftsführer von Nintendo of America Doug Bowser äußerte sich wie folgt:

„Für uns ist eins unserer Grundsätze, dass wir Menschen zum Lächeln bringen, darüber reden wir die ganze Zeit. Es ist unsere Vision. Oder unsere Mission, so sollte ich es sagen. Das gilt auch für unsere Mitarbeiter_innen. Wir müssen sicher gehen, dass unsere Angestellten eine gute Work-Life-Balance haben […]. Ein Beispiel ist, dass wir kein Spiel veröffentlichen, bevor es fertig ist.“

Auch ohne Crunch ein Hit: Animal Crossing: New Horizons.
Screenshot von: Game Activists – Spiel: Animal Crossing: New Horizons

Die tierische Lebenssimulation wurde verschoben und erschien schlussendlich im März 2020. Und siehe da: Es ist technisch gesehen ein fehlerfreies Spiel! Auch die Verkaufszahlen sprechen dafür, dass es sich gelohnt hat, sich ein paar Monate mehr Zeit zu lassen. Man könnte meinen, dass Nintendo für seine eigene Konsole Spiele produziert und Verschiebungen dadurch leichter fallen. Jedoch sehen wir am Beispiel von Naughty Dog, welches seit 2001 zu Sony gehört, dass dies kein Entscheidungsmerkmal für weniger Crunch-Time ist. Vielleicht benötigt die Videospielindustrie auch einfach wieder die Philosophie von Blizzard, die auf Nachfrage bezüglich des Veröffentlichungsdatums mantra-artig wiederholten: Es ist fertig, wenn es fertig ist (auch wenn so manche Spieler_innen nichts mehr von diesem Leitsatz in den Spielen wiederfinden).

Was bleibt also festzuhalten? Der Fall Cyberpunk 2077 sollte nicht nur die Entwicklungsstudios wachrütteln, sondern auch uns Gamer_innen. Denn nachhaltig gute Spiele zu produzieren funktioniert nur, wenn nicht nur die Endkonsument_innen das Produkt genießen können, sondern auch die Mitarbeiter_innen eine gute Work-Life-Balance haben.

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